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Interview mit einem Iranischen Anarchisten über die Proteste im Land

"Man hat vor niemandem mehr Angst" - Interview mit einem Iranischen Anarchisten über die Proteste im Land


Das folgende Interview von ALB-Noticias (alasbarricadas.org) mit Unterstützung von José Antonio Gutiérrez (Aktivist von anarkismo.net) wurde mit Payman Piedar geführt, exilierter Iranischer Anarchist, der sich bereits an zahlreichen libertären Initiativen in der EU und in Peru beteiligt hatte. Ausserdem war Payman Piedar Redaktor der anarchistischen Zeitschrift Nakhdar, die in Englisch und Farsi erschienen ist.

Im folgenden Interview versuchen wir inmitten der Verfälschungen der westlichen und der Zensur der Iranischen Medien zu erruieren, was wirklich in diesen Tagen im Iran passiert. Obwohl wir nicht vor einem Aufstand mit revolutionärem Charakter stehen, steigen in der Hitze des sozialen Aufruhrs die Aussichten auf breiten zivilen Ungehorsam.

1. Man sagt, dies seien die wichtigsten Demonstrationen seit der Revolution von 1979... Sehen Sie eine Kontinuität zwischen den Protesten von damals und heute?

Ja, es ist richtig, dass diese Mobilisierungen oder Demonstrationen die grössten und wichtigsten seit der Revolution von 1979 sind. In der Tat begann es damals genau so wie heute.

Der Schah, ein Diktator und Marionette des US-Imperialismus, beging den Fehler, keine Kritik an seiner Herrschaft zu dulden, und das Volk, das seine langjährige repressive Regierungszeit satt hatte, erhob sich endlich und schickte ihn auf den Müllhaufen der Geschichte.

Ebenso gibt es eine Kontinuität zwischen den Ereignissen von 1979 und heute, denn die Revolution, oder besser gesagt der Aufstand von damals - in Wahrheit war es keine soziale, sondern eine politische Revolution, ein blosser Wechsel von einer monarchischen zu einer theokratischen Herrschaft -, wurde von den Mullahs (Religionsgelehrte) mit Ajatollah Khomeini an der Spitze in Beschlag genommen, und es begann die Ära eines neuen diktatorischen Regimes.

Unter solchen Umständen sehnt sich das Volk nach der Freiheit wie nach Brot und Wasser - und es ist bereit, dafür zu sterben. Vor allem die Jungen, da 65% der Iranischen Gesellschaft jünger als 30 Jahre sind und genug davon haben, erniedrigt und unterdrückt zu werden. Mehr noch, diese Bewegung, die bereits als eine andere Revolution erscheint, die, so hoffe ich, jetzt weitergehen wird, ist die Wiederaufnahme des Kampfes für die Verfassung von 1905, der nie zu einem Ende kam. Die Freiheit, auch nur bloss in ihrer bürgerlichen und begrenzten Form, ist etwas, dass die Iranische Gesellschaft bis heute nicht kennt. Die demokratische Regierung von Dr. Mosadegh dauerte lediglich zwei Jahre, von 1951 bis zum August 1953, weil die US-amerikanische Regierung und die CIA sie stürzten, noch bevor sie das gleiche mit derjenigen von Arbenz Gũzman in Guatemala 1954 taten.

2. Inwiefern glauben Sie, dass die aktuellen Mobilisierungen das theokratische Regime schwächen können?

Die Antwort auf diese Frage ist nicht einfach. Alles hängt davon ab, bis zu welchem Grad diese Mobilisierungen fortgeführt werden. Glücklicherweise ist die Aura, die "Würde" der Mullahs, im Speziellen diejenige von Khamenei, dem Nachfolger von Khomeini, angegriffen worden. Wir haben bereits den Slogan "Stirb Khamenei" gehört, und gestern verbrannten sie sein Bild auf der Zanjan-Strasse in Teheran. Dieses Zeichen ist sehr wichtig. Man hat vor niemandem mehr Angst.

Schon fast ist der Moment gekommen, in dem "die von unten es nicht mehr ertragen", wie Lenin sagte, aber es fehlt noch ein Stück, damit "die von oben nicht mehr regieren können". Heute habe ich gehört, dass in Qom, dem Vatikan der Schiiiten, ein Bruch zwischen den hohen religiösen Führern stattgefunden hat. Eine Fraktion gab die Order, die älteste Tochter von Rafsandschani, einem der mächtigsten, reichsten und korruptesten Ajatollahs, zu verhaften; er war zwischen 1989 und 97 Präsident; am folgenden Tag, also heute, liessen sie die Tochter wieder frei. Rafsandschani hat zwei wichtige Posten in der staatlichen Hierarchie inne, einer davon ist der Vorsitz im Expertenrat, der den obersten religiösen Führer, im Moment also Khamenei, wählen oder abberufen kann.

Somit ist es möglich, dass dieser Rat Khamenei abwählt, wenn die Vorfälle und Mobilisierungen für einige Tage oder Wochen anhalten. Was kommt danach? Es kann sein, dass der Rat eine Gruppe von acht Personen an die Stelle eines obersten religiösen Führers setzt. Es gibt bereits Gerüchte über diese Möglichkeit. Oder, im besten Fall, hört die Bewegung nicht auf bis zur totalen Niederlage des theokratischen Systems.

Vergessen wir nicht, dass diese Stimmung entstanden ist, weil Khamenei den Fehler begangen hatte, die gefälschte Wahl im letzten Freitagsgebet abzusegnen. Aus diesem Grund ist es sehr unwahrscheinlich, dass er einen Rückzieher macht oder dass die Bevölkerung eine allfällige Entschuldigung annehmen würde. Aber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Die Bourgeoisie und die religiösen Anführer können auf dem Rücken des Volkes zu einer Einigung kommen und die Situation zu beruhigen suchen. Ich sehe dies jedoch als schwierig an.

3. Welche Rolle haben die ArbeiterInnen bis jetzt in diesen Mobilisierungen gespielt? Gibt es eine Möglichkeit, dass der Protest sich im Interesse der arbeitenden Klassen entwickeln könnte?

Freilich hat es innerhalb dieser Mobilisierungen ArbeiterInnen aus verschiedenen Sektoren: Handel und Dienstleistung; aus dem informellen Sektor; Selbstständige, Marginalisierte und Arbeitslose. Wir müssen uns in Erinnerung rufen, dass 25-35 % der Bevölkerung ohne Arbeit sind. Abwesend sind jedoch die ArbeiterInnen aus dem wichtigsten Sektor, nämlich aus der Öl- und Petrochemie-Industrie, die hauptsächlich im Süden des Landes in der Nähe des Persischen Golfes beheimatet ist. Der Tag, an dem diese ArbeiterInnen innehalten und in den Generalstreik treten, bedeutet der Erfolg der Revolution, oder, besser gesagt, die vollständige Niederlage des theokratischen Regimes. Damit diese Bewegung für die Interessen des Proletariats eintritt, müssen sich die ArbeiterInnen dieses Sektors daran beteiligen und die Initiative darin übernehmen.

4. Man betont fortwährend die Mobilisierung der Opposition, aber sicherlich haben auch die Anhänger von Ahmadinejad in grosser Zahl mobilisieren können - vielleicht sogar noch stärker als jene (was aus offensichtlichen Gründen von der westlichen Presse ignoriert wird). Was treibt die Anhänger des Iranischen Regimes auf die Strasse?


Erstens, die Anhänger des Regimes von Ahmadinejad sind nicht zahlreicher als diejenige der Opposition. In Wirklichkeit war das Resultat der Präsidentschaftswahlen das folgende: Moussavi bekam etwas mehr als 19 Millionen Stimmen, Karrobi, der andere "Reformer", 13 Millionen, Rezaie, politisch Ahmadinejad nahestehend, wenn auch ein wenig "moderater", 3 Millionen, und Ahmadinejad selbst etwas mehr als 5 Millionen. Die Anzahl ungültiger Stimmen belief sich auf rund anderthalb Millionen.

Die Anhänger von Ahmadinejad kommen hauptsächlich aus ärmeren Bevölkerungsschichten, die einen Betrag von $50 und Chipstüten erhielten. Ebenso aus Pensionärskreisen, die just einige Tage vor den Wahlen einen hohen staatlichen Zuschuss für ihre Renten bekamen: vorher waren es $200, nun $600. Und vergessen wir nicht, dass dieses Regime über drei bis fünf Millionen junge Bassiji verfügt, eine paramilitärische Miliz, vergleichbar mit der Falange von Franco, und die ihre Mitglieder hauptsächlich aus den unteren Schichten rekrutiert. Dazu kommen noch deren Familien, die wegen einer monatlichen finanziellen Zuwendung grundsätzlich hinter dem Regime stehen. Aber es gibt auch eine geringe Zahl an StudentInnen, die während der Wahlkampagne diesen Bonus von $50 ebenfalls erhielt.

Ich nehme an, dass es ebenso einige Kreise im unteren Mittelstand gibt, die Ahmadinejad gewählt haben, da dieser während seines Wahlkampfes ein paar Namen von korrupten, in Mafiastrukturen verwickelten Politikern genannt hatte (u.a. Rafsandschani).

5. Gibt es einen Klassenunterschied zwischen der einen und der anderen Seite? Wir stellen diese Frage, weil bei Ermangelung einer gefestigten und klaren revolutionären Alternative die ArbeiterInnenklasse und die Armen im Allgemeinen gewöhnlich für konservative Anliegen eintreten...

Es gibt keine grossen Differenzen zwischen den Parteien der Mächtigen. Alle sind Teil der Bourgeoisie. Niemand "repräsentiert" den Mittelstand, die unteren Schichten oder das Proletariat. In ökonomischer Hinsicht sind alle beteiligten Parteien für den Neoliberalismus, für Privatisierungen und für eine Politik im Sinne der Welthandelsorganisation - mit minimalen Differenzen hinsichtlich der staatlichen Zuwendungen an die Armen. Die einen wollen ihnen monatlich etwas mehr Geld geben, die anderen wollen diese Hilfen via Preissenkungen beim Brot, beim öffentlichen Verkehr und bei den Versicherungsprämien gewähren.

Politisch betrachtet will die Opposition allerdings einen demokratischen Eindruck machen: sie steht ein für Redefreiheit, ist gegen die Zensurierung oder Unterbindung von regierungskritischen Publikationen, lehnt die Todesstrafe für Minderjährige ab, will den Frauen im öffentlichen Sektor mehr Chancen bieten, wehrt sich gegen die Inhaftierung von radikalen StudentInnen, ist für mehr Frauenrechte bei Scheidungen usw.

6. Auffallend sind die gemässigten Worte von Obama vor den Mobilisierungen - eine Zurückhaltung, die mit den Hurra-Parolen von Bush und der CIA während den Demonstrationen von Beirut und Kiew vor ein paar Jahren kontrastiert... Von woher rührt diese vorsichtige Haltung?

Die Position von Obama ist sehr diplomatisch. Die US-amerikanischen ImperialistInnen wissen sehr genau, dass der Iran nicht mit dem Irak, Afghanistan oder Pakistan vergleichbar ist; noch ist er mit Beirut oder Kiew gleichzusetzen. Es gibt keine Möglichkeit für sie, im Iran zu intervenieren; nicht einmal während der Regierung Bush gab es Pläne für ein Vorgehen analog zur Invasion im Irak, geschweige denn jetzt, wo die Dinge so bewegt sind. Sie können die momentane Situation im Iran nicht gefährden.

Sie wollen keine Verschlechterung der Lage, weil es letzten Endes besser ist, jemanden an der Macht zu haben, der den Ausfuhr des Erdöls aus der Region nicht gefährdet... Obama weiss, dass die Mullahs davon gesprochen haben, dass die "EU, Grossbritannien, Frankreich, Deutschland im Iran intervenieren...", um nicht nur die öffentliche Meinung im Iran, sondern weltweit abzulenken. Deswegen sagte Obama, dass er nicht wolle, dass man den Eindruck habe, die EU mische sich in die inneren Angelegenheiten des Landes ein. Aber schon gestern schob er, um die Konservativen zu befriedigen, folgende Erklärung nach: "Die Iranische Regierung darf ihre politischen Gegner nicht unterdrücken, sie darf nicht so gewalttätig vorgehen..."

Ausserdem haben die Mullahs den US-AmerikanerInnen in grossem Ausmass geholfen, die Situation im Irak und in Afghanistan zu "stabilisieren". In anderen Worten sind ihre Interessen oftmals mit den geopolitischen Ambitionen des US-Imperialismus deckungsgleich. Es ist besser, diese delikate Situation nicht zu gefährden. So betrachtet ist Obama wegen den hegemonialen Interessen des US-Imperialismus die beste Karte, auf die sie setzen können. Bush und seine Politik sind bereits Geschichte, temps passé.

Auf seiner letzten Reise in den Nahen Osten hielt Obama eine Rede an der Universität von Kairo, in der er versuchte, einen pro-islamischen und der arabischen Welt nicht allzu feindlich gesinnten Eindruck zu hinterlassen. Auch besuchte er den Saudischen König und seine zionistischen Verbündeten in Israel. Alles deutet darauf hin, dass er ein konsens- und nicht konfrontationsorientiertes Bild vermitteln will. Obwohl diese Politik aus seiner Sicht im Allgemeinen durchaus vernünftig ist, wird sie in strategischer Hinsicht in der Region nicht aufgehen, denn man vergass wie immer, den PalästinenserInnen im Konflikt mit Israel substantielle Zugeständnisse zu machen.

7. Wie denken Sie wird die momentane Situation im Iran ausgehen? Können sich die fortschrittlichen Kräfte irgend etwas von dieser Opposition erhoffen oder ist es notwendig eine wirkliche Alternative zu schaffen?


Die fortschrittlichen Kräfte können oder dürfen nicht auf die existierende Opposition hoffen. Erstens ist sie nicht laizistisch; sie ist islamisch und für die islamische Verfassung. Sie ist nicht gegen die Person des "Velayate Faghie", also des obersten religiösen Führers. Sie will nur politische Einflussmöglichkeiten in den Grenzen der Verfassung der Islamischen Republik haben, mehr nicht. Und weil die ArbeiterInnenbewegung überhaupt nicht stark ist - denn wir haben keine Gewerkschaften, die nicht vom Staat kontrolliert werden -, können die Fortschrittlichen diese Gelegenheit nur nutzen, um ein weniger repressives Umfeld zu schaffen - ein Umfeld, das ein wenig freier zum Atmen ist und in dem sich anti-kapitalistische Ziele und langfristige Kampfstrategien organisieren und entwickeln lassen.

Die ArbeiterInnen, die Jungen, die Frauen, die Marginalisierten und die Arbeitslosen müssen ihre Allianzen Schritt für Schritt schmieden; sie müssen Affinitätsgruppen, Organisationen, Versammlungen und Räte schaffen, und dann ihre Pläne für die endgültige Befreiung erarbeiten: Zerstörung des Staates, Abschaffung des Kapitals und die Reinigung des Geistes von aller Religion und Aberglauben. Dies wird der Tag des Feierns sein.

[Quelle in Spanisch: http://www.alasbarricadas.org/noticias/?q=node/11031]

[Übersetzt aus dem Spanischen]